Es ist kein typischer Stammtisch geworden – Die Geschichte des Groß-Gerauer „FC Licher“-Stammtisch
Die Tage im August 1970 waren wie geschaffen, um einen Stammtisch zu gründen und dort die Ereignisse des Weltgeschehens, meist natürlich die Sportlichen, zu diskutieren oder zu kommentieren. Es war die Zeit in der Borussia Mönchengladbach Deutscher Fußballmeister geworden war und die Offenbacher Kickers völlig überraschend Pokalsieger. Es waren nur wenige Monate her, da hatte sich Bundeskanzler Willy Brandt mit dem DDR-Ministerpräsidenten Willi Stoph getroffen und die „Willy, Willy“-Rufe vor dem Hotel „Erfurter Hof“ sollten in die Weltgeschichte eingehen. Aber es war auch die Zeit, in der die Terrororganisation Rote-Armee-Fraktion (RAF) gegründet wurde, der Vietnamkrieg in den USA zu immer mehr Protesten führte und das Drama um das amerikanische Raumschiff „Apollo 13“ glücklich zu Ende gegangen war.
August 1970 – Die Gründung
Der Realschulabschluss an der Groß-Gerauer Johannes-Angelus-Schule war geschafft. Wenige Wochen später gründeten an einem Freitagabend im August vier Schulfreunde eher zufällig einen Stammtisch, der im Jahr 2020 sein 50-jähriges Bestehen feiert und auf eine wechselvolle Geschichte zurückblicken kann.
Aus den Gründungstagen des heutigen Stammtisches „FC Licher“ sind die Erinnerungen von zwei Mitgliedern überliefert, die im Rahmen des 25-jährigen Jubiläums veröffentlicht wurden.
Ein eher leicht anrüchiges Lokal, bei der besseren Gesellschaft nicht allzu sehr gelitten
„Klaus und Werner saßen gerade bei Rolf in seinem Partykeller „Room to Move“ und hatten keine Lust mehr, länger ihre Pubertätsprobleme zu diskutieren“, erinnerte sich Rolf an die Entscheidung der drei 16-Jährigen, in die Gaststätte „Festung Metz“ zu gehen, um ein Bier oder zwei zu trinken. Dort trafen sie mit Rainer einen ehemaligen Klassenkameraden und kurzentschlossen saß das Quartett an einem Tisch im hinteren Raum der Kneipe von „Watz“ (der Wirt Helmut) und von „Hilde“ der Wirtin, direkt neben der Musikbox. „Schon an diesem Abend war man von der Geschwindigkeit beeindruckt, in der de Watz ein Pils zapfte“, sagte Rolf über den ersten Stammtischabend. „Er schaffte das in Rekordzeit von kaum mehr als zehn Sekunden.“
Rainer erinnert sich etwas kritischer an den ersten Abend in der „Festung Metz“ und schreibt in seinem Text „Stammtische müssen runde Tische sein“ über die Gründung: „Am Anfang stand eher ein Zufall. Drei ehemalige Klassenkameraden trafen sich bei dem Versuch, einen jener klassischen Groß-Gerauer Kleinstadtsonntage irgendwie zu verbringen. Die Wahl der Lokalität, in der man sich niederlassen und das gemeinsame Elend mal besprechen könnte, fiel auf die Festung Metz. Ein eher leicht anrüchiges Lokal, bei der besseren Gesellschaft nicht allzu sehr gelitten.“ Rainer ging auch auf die Wirtseheleute ein: „Hilde, die rundliche Ersatzmutter und Helmut („de Watz“), ein in nahezu allen Kneipenlagen erfahrener Wirt, boten Hilfestellung in der für 16-Jährige so notwendigen Lebensbewältigung.“
Meist trinkfeste, ordentliche Mitglieder der Männergesellschaft
Für den heute in Berlin lebenden Rainer, der später Theologie studierte und für die Kirche lange als Sozialarbeiter arbeitete, war das Thema „Stammtisch“ zunächst „ein Ort bierseliger Gemütlichkeit, wo der Fremdenhass blüht und jene Formen von Politik entstehen, die uns das Grauen in den Nacken treiben sollte“. Bei seiner Laudatio im Jubiläumsjahr 1995 war das wenig schmeichelhaft und in den Anfangsjahren sah er die Entwicklung der Stammtischbrüder („Schwestern waren zu diesem Zeitpunkt noch verpönt“) zu meist trinkfesten, ordentlichen Mitgliedern der Männergesellschaft.
„Wie bekomme ich eine Frau und wenn ich eine habe, was dann…?“, war für Rainer einer der wichtigen Stammtischthemen, an die er sich neben den Gesprächen über Bundeswehr oder Ersatzdienst, Berufsalltag, Karriere oder deren Verhinderung erinnerte.
Rolf schreibt in seiner Erinnerung zur Gründung des Stammtisches, dass sich die vier Gründer der liebevollen und herzlichen Art der Wirtin Hilde erfreuten und gegen 23 Uhr beschlossen: „Des kennte mer öfters mache“. Wirtin Hilde amüsierte sich damals darüber, als das Quartett beim Bezahlen der Rechnung den bedeutungsvollen Beschluss mitteilte: „Mer gründe en Stammtisch!“ Die Gründung sollte nicht ohne Folgen bleiben und Rolf stellte fest: „Schon in der folgenden Woche schlossen sich mehrere Freunde der vier Urstammtischler dem Freitagstreffen an und noch viele sollten folgen.“
Ein Forum der Meinung, bei dem Jeder gleich gilt
In seiner Bilanz der ersten Stammtischjahre ordnete Rainer dessen Entwicklung als „nicht typisch“ ein. „Das lag sicher auch an der zunehmenden Einbeziehung der Frauen in das Geschehen. Auch vermutlich an den Spezifika unserer Generation, die viele Brüche in der gesellschaftlichen Entwicklung in den lernbereitesten Jahren erfahren hat. Irgendwie sind wir die konsequentesten 68iger, die manches selbst erkämpfen mussten, von vielen Entwicklungen profitieren konnten, Freiräume hatten zum Experimentieren. Jedenfalls immun sind, gegen jene dumpfe Tradition, die mir immer einfällt, wenn ich das Wort Stammtisch höre.“ Für Rainer ist der Stammtisch ein Forum der Meinung, bei dem Jeder gleich gilt. Wo jede Meinung respektiert wird und ein Recht hat zu Gehör gebracht zu werden. Wo der Streit um die Wahrheit organisiert wird und er schließt mit der Aussage: „Wo aber auch Solidarität und Zuneigung zu Hause sind, wo ich Hilfe und Verständnis finde, wenn ich Sie benötige.“